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Titel
Zwischen Wandern und Lesen. Eine rezeptionshistorische Untersuchung des Literaturkonzepts der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung 1896–1923


Autor(en)
Lorenzen, Malte
Reihe
Jugendbewegung und Jugendkulturen – Schriften 19
Erschienen
Göttingen 2016: V&R unipress
Anzahl Seiten
408 S., 18 Abb.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maria Daldrup, Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Oer-Erkenschwick

Lesen ist mit der bürgerlichen Jugendbewegung ebenso wie das Wandern bereits seit Entstehung des Steglitzer Wandervogels eng verknüpft. Es war die frühneuhochdeutsche Reise- und Romanliteratur, die den romantisierten Naturvorstellungen der Wandervögel besonders entsprach, und deren Motive wie die Sehnsucht und Suche nach der blauen Blume oder Vagabunden, Scholaren und Bacchanten als Selbstidealisierungsformen. Insbesondere humanistische Ideale – das Konzept von Bildung insbesondere – wurden mithilfe von und in Auseinandersetzung mit Literatur Teil der Alltagspraktiken und Inszenierungsformen der frühen bürgerlichen Jugendbewegung. Wandern und Lesen standen so in einem unauflöslichen, wenn auch oft ambivalenten Verhältnis zueinander. Lektüre bildete die Basis und den Ausgangsort für Reisen, auf denen „die Welt mit eigenem Augenschein“ erkundet werden sollte (S. 14). In den Worten Dankwart Gerlachs, des wohl prominentesten Literaturkritikers der Jugendbewegung, handle es sich um ein Pendeln „zwischen Feld, Wald, Wiese, Wasser – und Buch, zwischen Wandern und Lesen“.1

Dieses Stichwort greift Malte Lorenzen in seiner 2015 als literaturwissenschaftliche Dissertation an der Universität Bielefeld eingereichten Arbeit auf und fragt, welche Normen und Wertungen des Lesens sich in der Jugendbewegung des frühen 20. Jahrhunderts fanden? Wie wurde Literatur für Gruppen, Bünde, Personen funktionalisiert? Wie also, so die leitende Fragestellung, ging diese Bewegung, die quantitativ zwar marginal war, der aber qualitativ eine weite Strahlkraft zukam, mit Literatur um?

Lorenzens Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand verdeutlicht, dass die Untersuchung von Lesegewohnheiten zwar durchaus in das Repertoire der Jugendbewegungsforschung bzw. -chronik gehört, die eigentlichen Gründe für Lektüren und die Verbindungen mit der Praxis des Wanderns hingegen nach wie vor ein Desiderat darstellen. Weder textuelle Wirkungspotenziale noch leser/innenseitige Wirkungsergebnisse wurden bislang auf methodisch-theoretischer sowie empirischer Grundlage hinreichend untersucht. Lorenzen schlägt vor, Quellen der Jugendbewegung aus der Perspektive der psychologischen und literaturwissenschaftlichen Rezeptionsforschung im Hinblick auf das Wie des Literaturlesens zu befragen. Dabei geht er von der Hypothese aus, dass es in der Jugendbewegung ein mehr oder weniger konstantes Literaturkonzept gegeben habe, das Auswahl, Interpretation und Wertung von Literatur gelenkt habe.

Zunächst unterzieht Lorenzen verschiedene Ansätze der Rezeptionsforschung, vor allem aus dem Bereich der Rezeptionsästhetik, der psychologischen Leser/innenforschung sowie der empirischen Rezeptionsforschung, einer kritisch-reflektierten Analyse. Dabei folgt er der Grundannahme, dass Texte ein Bedeutungspotenzial bereitstellen, das sich im Akt der Rezeption konkretisiere. Durch das Modell des Textverstehens lassen sich, Lorenzen zufolge, vertiefende Erkenntnisse über die individuellen Bedingungen der Rezeption literarischer Texte gewinnen, wobei der Interaktion zwischen Text und Kognitionsstruktur von Rezipient/innen in der jeweiligen textuellen, zeitlichen, kulturellen und/oder situativen Kontextualisierung eine besondere Rolle zukomme. Die Psyche sei eben keine „tabula rasa, in die sich der rezipierte Text voraussetzungslos und vorurteilsfrei einprägen würde“ (S. 52). Das Literaturkonzept, so der zweite theoretische Zugang, ergänzt diesen Befund und ist definiert als ein „hinreichend umfangreiches, hinreichend zusammenhängendes und dennoch flexibles Set bewusster und unbewusster Annahmen, Überzeugungen, Mutmaßungen und Wissensbestände, die Einfluss haben (können) auf die Wahrnehmung, Selektion, Interpretation und Wertung literarischer Texte“ (S. 57). Folglich interessiert sich Lorenzen für die Einstellungen jugendbewegter Leser/innen gegenüber literarischen Texten.

Zur Rekonstruktion des Literaturkonzepts zieht Lorenzen neben mehr als 1500 Rezensionen auch literaturkritische Texte aus der bürgerlichen Jugendbewegung hinzu. Dieses Quellenmaterial dekliniert er in all seinen gattungstheoretischen Besonderheiten gekonnt durch. Die Zeitschrift „Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift“ markiert mit ihrem erstmaligen Erscheinen im Jahre 1904 den Beginn des Untersuchungszeitraums. Den zeitlichen Endpunkt bildet das Jahr 1923 mit dem zehnjährigen Jubiläum des Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner und der endgültigen Zersplitterung der Freideutschen Jugend. Innerhalb dieses Zeitraums erschienen Zeitschriften wie „Weiße Ritter“ oder „Junge Menschen“, die Bundeszeitschrift des Deutschen Mädchen-Wanderbundes oder auch die Zeitschrift der älteren Wandervögel: der „Zwiespruch“. Über diese Auswahl gelingt es, verschiedene politische Strömungen ebenso in den Blick zu nehmen wie den Gender-Aspekt. Zugleich eint die Zeitschriften eine ähnliche Programmatik, trotz der Unterschiede ihrer Herausgeber/innen, denn sie dienten der Mitgliederbindung und waren Werbung und Ratgeber zugleich.

Dass sich überhaupt Literaturkritiken in den Zeitschriften der Jugendbewegung fanden, war keineswegs erwartbar – aber gleichwohl üblich. Dies hängt mit der engen Verflechtung von Literatur und ihrer Funktionalität für die Bewegung selbst zusammen. Eingang fanden vor allem Titel, die unmittelbar mit jugendbewegten Themen in Beziehung standen. Die Kritiken selbst fielen allerdings nicht allzu kritisch aus. Nur selten fand sich ein Verriss, bisweilen wurden literarische Werke erst gar nicht aufgenommen – ob nun aus Desinteresse, Ablehnung oder fehlender Kenntnis sei nicht eindeutig zu bestimmen, so Lorenzen. Maßgeblich aber war wohl die Bevorzugung von positiv konnotierter Literatur.

Die eigentliche Rezeption der Literaturkritiken bleibt mangels geeigneter Quellen zwar in weiten Teilen eine Black Box, aber es lassen sich schlüssige Thesen zur Wirkung der Literatur selbst – auf ganze Gesellschafen, Teilbereiche oder Einzelne – durchaus anstellen. Hierbei greift Lorenzen ebenfalls auf Artikel aus den Zeitschriften zurück, die sowohl Anleihen aus dem bereits seit der Aufklärung bekannten Appell gegen eine vermeintlich schädliche „Lese-Sucht“ als auch aus dem zeitgenössisch typischen Kampf gegen „Schmutz-und-Schund-Literatur“ nahmen. Hieran anschließend verweisen die Quellen im Schreiben über das Lesen auf die Diskrepanz zwischen Realitätsflucht einerseits und dem Erleben und Erfahren im Draußen, z.B. durch das Wandern, andererseits – also dem Widerstreit von „Kunst“ und „Leben“ (S. 175).

Mit Blick auf die Autorschaft greift Lorenzen auf die Unterscheidung von „Referenzauthentizität“, bei der es um die „Faktizität des Erzählten geht und bei der der Autor als Referenzinstanz“ fungiere, und „Subjektauthentizität“ zurück, die über das literarische Werk die Persönlichkeit des Autors verwirklicht (S. 180). Es zeigt sich, dass die Autorfigurationen der Jugendbewegung zumeist verknüpft waren mit lebensweltlichen Funktionen. Die Referenzinstanz Autor/in galt zuvorderst als Wirklichkeitsreferenz zur Steigerung der Wahrhaftigkeit des zu lesenden Textes – außer es handelte sich um idealisierte, vorbildhafte Figuren, die demgegenüber selbst in das Zentrum des Interesses gestellt wurden und vor denen der eigentliche Text die Bedeutung verlor, wie dies etwa bei Künstlern wie Karl Wilhelm Diefenbach der Fall war. „Ohne Zweifel ist Autorschaft jedoch eine zentrale Kategorie des jugendbewegten Literaturkonzeptes, die es in verschiedener Hinsicht erlauben soll, Verbindungen zwischen Text und Lebenswelt herzustellen“, so Lorenzen (S. 211).

Aber nicht nur der Autor erhielt eine spezifische Funktion, auch dem Text wurden „Soll-Werte“, also Zwecke und Aufgaben, zugeschrieben. Der Versuch, eine produktive Verbindung von Kunst einerseits, von Leben und Erfahrung andererseits zu schaffen, spiegelt sich gerade in den hier untersuchten Funktionen von Literatur für die Jugendbewegung wider. Die Zwecke und Aufgaben, die Literatur für die jugendbewegten Leser/innen bereithalten sollten und die an vielen Stellen Bezüge zur Praxis des Wanderns setzten, lassen sich zusammenfassen als: Landes- und Heimatkunde, nicht selten hergestellt über Märchen und Sagen, literarische und historische Bildung, letztere oft verbunden mit Parallelisierungen zu zeitgenössischen Verhältnissen, Identitätsfragen in einer Zeit des Umbruchs und der Verwerfungen nach dem Ersten Weltkrieg und zuletzt eine Emotionalisierung der Leser/innen.

Abschließend widmet sich Lorenzen der expliziten Wertung von Literatur. Trotz einiger Überschneidungen mit vorherigen Kapiteln geht es hier spezifisch um Lektürepraxis, Verbindungslinien zum Politischen und die Frage nach Authentizität. Die Lektürepraxis beinhaltete sowohl das vergemeinschaftende (Vor-)Lesen als auch individuelles Lesen. Zugleich diente das Buch als Gebrauchsgegenstand, der sich als Begleitung „auf Fahrt“ eignen musste, sowie als Kunstwerk im Sinne eines ästhetischen und distinkten Mittels. Politische Wertungen in der Literatur kreisten oft um Fragen von Deutschtum, Nationalem, Völkischem, waren aber zumeist weniger explizit als politische Überzeugungen formuliert, sondern vielmehr subtil eingebunden in stimmigen Narrationen. Eine zentrale Bedeutung nahm Authentizität für die Literatur ein, mithilfe derer eine rote Linie durch alle Kapitel der Studie nachgezeichnet werden kann, da hier moderne und unmoderne Elemente, Kunst und Natur in all ihrer Verschränktheit besonders zutage treten.

Letztlich, so resümiert Lorenzen im Fazit, war die Nutzung und Wertung von Literatur getragen durch drei Aspekte: Bestätigung vorhandener Meinungen und Weltbilder, jugendbewegter Formen und Praktiken; die Erbauung des Einzelnen und des Kollektivs sowie das Sinnstiftungspotenzial von Literatur.

Lorenzen gelingt es, in seiner Studie die verschiedenen Facetten des Literaturkonzepts, den hochkomplexen Prozess der Rezeption von Literatur in der bürgerlichen Jugendbewegung auf quellengesättigter Basis über viele Ebenen herauszuarbeiten – obgleich er an einigen Stellen zu sehr auf einer theoretisierenden und kontextualisierenden Ebene verbleibt und so die Protagonist/innen der Bewegung, die jungen Menschen, teilweise aus dem Blick geraten. Insgesamt zeigt die Studie das ambivalente Verhältnis von „Kunst“ (hier: Literatur) auf der einen, „Leben“ (hier: Wandern) auf der anderen Seite, und zugleich eine weitgehende Einpassung des jugendbewegten Literaturkonzepts in bürgerliche Vorstellungen von Literatur, ihrer Wirkung und Funktion. Ein erweiterter Blick etwa auf Vergleiche und Wechselwirkungen mit den Literaturvorstellungen in der Arbeiter/innenjugendbewegung wären sicherlich für künftige Forschungsarbeiten lohnenswert.

Anmerkung:
1 Dankwart Gerlach, Entwicklung und Bücher, in: Führerzeitung, 1916, Heft 12, S. 162-168, hier: S. 163.